Stern - Heute will keine Sau mehr ein Autogramm
Tokio Hotel ist wieder da, und stern hat die Jungs getroffen.
Nach einem anstrengenden ersten Tag mit Presse und Fans ging es um kontroverse Videos, Sex und die Dogge Pumbaa.
2007, das Teldex-Gelnde in Berlin-Lichterfelde. Sicherheitsleute berall und versprengte Mdchen-Grppchen, die an ihnen vorbei doch irgendwie versuchen wollen, ins Gebude zu kommen. Geschrei an der Auffahrt. Je mehr man sich dem alten Studiokomplex nhert, desto ruhiger wird es. Drinnen, in einem riesigen Aufnahmesaal, sitzen vier kleine Jungs, die gerade mit frischem Deutschpoprock und einem Paradiesvogel als Snger die deutsche Popszene aufgemischt haben. Frontwesen Bill Kaulitz, der damals wegen dunklem Kajal und Stachelfrisur gern mit einer Mangafigur verglichen wurde, blickt mit groen Augen belustigt in die Welt, macht mit seinen Gedanken Stze, in die sein Zwillingsbruder Tom andauernd hineingrtscht, um zu erzhlen, dass er gern eine der Olsen-Zwillinge wre, um mit der anderen baden zu gehen. Bassist Georg Listing emprt sich derweil ber Pappkulissen beim Musikpreis Comet, und Drummer Gustav Schfer sagt standesgem fast gar nichts.
Zwei Jahre spter war Tokio Hotel eine der erfolgreichsten Bands Deutschlands. Millionen verkaufte Platten, die kreischenden Fans waren Standard, sogar im Ausland. Der Erfolg schwappte bis nach Sdamerika. Bill Kaulitz, mit seiner uneinordbaren Darstellungswucht, war ein Superstar, aber auch Gerchte-Magnet. Zu androqyn, zu dnn, zu anders als alle anderen. Trotzdem, die MTV Europe Awards 2009 gehrten fast ihm allein. Lssig stand er auf seinen Monsterabstzen neben Beyonc und Jay-Z. Dann stckelte er zum Interview und war vor allem eines in den vergangenen 24 Monaten: gewachsen. Er war jetzt knapp 20. Ein Jahr spter wurde es ihm und seinem Bruder zuviel. Als sie nach der Geburtstagsparty zum 21. nach Hause kamen, fanden sie ihr Heim, Fotos und Unterwsche von Einbrechern durchwhlt. Sie packten ihre Sachen und zogen nach Los Angeles. Gustav und Georg blieben in Deutschland. Pause.
Vier Jahre spter, 2. Oktober 2014, Berlin. "Das ist Pumbaa", sagt Bill Kaulitz stolz und immer noch um mindestens zwlf Zentimeter erhht. Pumbaa ist eine schnaufende, fusselnde, rot-weie, zehn Monate junge Bulldogge, die Bill aus den USA mitgebracht hat. Nach einem langen Marketing-Tag lassen sich die Jungs von Tokio Hotel auf die Sthle im Luxushotel Ritz-Carlton fallen. Geschafft, aber glcklich. "Es lief gut", sagt Bill im Netzhemd, das den Blick freilsst auf ein groflchiges Brusttattoo. Die Haare sind so kurz und angeklatscht wie bei den Kollegen von Hurt. Und irgendwie grau-blond. Gustav sieht immer noch so als, als habe ihn gerade jemand beleidigt. Georg lchelt wissend. Und Tom fltzt gewohnt breitbeinig, hat nun aber diese erweiterten Ohrlcher, die zum Etwas-Durchschnipsen einladen.
Die vier Jahre waren lang, hat Bill auf der Pressekonferenz am Mittag gesagt. Die war klein und fast ruhig gewesen. Kaum 100 (geladene) Fans, die eher verhalten das gewohnte Schreien angestimmt und es sofort wieder sein gelassen haben. "Bei Konzerten wird es wieder lauter", versichert Bill und strahlt. Ihm nimmt man immer noch ab, dass er jedes seiner Worte mit jeder Faser seines Krpers glaubt. Wie vor sieben Jahren. Nun ist er 25, hat nach eigenen Angaben die vergangenen Jahre heftig gefeiert und will es unbedingt mal in New York versuchen, weil er "noch so einen Hunger auf Leben und Abenteuer" habe, den Los Angeles nicht stillen kann. Amerika werde ihr Zuhause bleiben, sagt Tom. Und ja, sie wohnen immer noch zusammen.
Das Comeback, das laut Band keines ist, weil sie nie weg waren ("Es gab keine Bandauflsung", sagt Tom), ist erfrischend angstfrei. Die Musik auf dem neuen Album "Kings of Suburbia" ist ein Mix aus allen Genres, hat aber wenig mit dem deutschen Poprock von frher zu tun: von der Ballade "Run, run, run", zum Gay-Pop von "Love who loves you back" bis zum Coldplay-Klon "Louder than Love" ist alles glatt-produziert, alles tanzbar, mit lustigen Elektro-Details, ein bisschen Autotune, ein bisschen Rihanna. Und vor allem alles in Englisch. Es sei eben die Entwicklung von fnf Jahren darauf zu hren, sagt Tom. Dank Bills unverwechselbarer Stimme, der eingngigen Melodien und treuer Fans funktioninert es durchaus.
So angstfrei, dass es sogar Journalisten verwirrt, sind die Videos zu zwei der vor dem Album verffentlichten Songs: "Girl got a Gun" und "Love who loves you back". In ersterem luft ein masturbierendes Plschmonster hinter mit Waffen fuchtelnden Drag-Gttinnen her. Das zweite zeigt sich kssende, umschlingende Menschenhaufen, in denen Bill mal drinliegt, mal danebensteht und sich mit Frau und Mann vergngt. Ihnen sei nicht aufgefallen, dass sie ihren Fans ein "Sex-Paket" berreichen, sagt Bill mit kindlich offenem Blick. Sie htten das alles einzeln betrachtet.
Zu den Videos gibt es auch noch das kontroverse Cover zur Single "Love who loves you back", das eine Frauenhand mit Computermaus zeigt, was zusammen wie eine Vagina aussieht. "Das war meine Idee", sagt Tom sofort. Er habe sich totgelacht. Und dann fgt er an: "Fr mich hat das sogar Tiefe. Guck mal, ich zum Beispiel habe jahrelang meine Liebe nur im Internetporno gefunden. Mit der Maus. Wie auf dem Bild." Wrde Bill gerade nicht unbedingt etwas Harmloses dazu sagen wollen, wre kurz Stille im Raum. Sex ist bei den Jungs groes Thema. Nur nimmt man es ihnen nicht so richtig ab. Auer Georg vielleicht, der im Vergleich zu den anderen einigermaen erwachsen rberkommt. Vor allem Bill ist seine Aura der Unschuld trotz Piercings und Tattoos nicht losgeworden.
Zum Glck kommt Pumbaa angeschnauft, und Bill freut sich. Damals, nachdem sie mit Freunden und Eltern nach Los Angeles geflohen seien, htten sie alle in einem groen Haus gelebt, Menschen und Hunde. "Ich liebe es, viele Leute um mich zu haben", sagt Bill. Dann hebt er Pumbaa nicht ohne Anstrengung auf seinen Scho und kuschelt die Dogge, die so heit wie das Warzenschwein aus "Der Knig der Lwen". Tom kuschelt bald mit.
Pumbaa ist brigens auch auf Bills Instagram-Seite zu sehen. Tokio Hotel hat erst seit wenigen Tagen eine. "Manchmal kommen wir uns ein bisschen old school vor", sagt Bill. "Als wir angefangen haben, gab es kein Facebook, kein Twitter, kein Instagram. Vor zehn Jahren, zu unserem Album "Schrei", standen alle mit dem Album da und wollten eine Unterschrift. Heute will keine Sau mehr ein Autogramm! Die Leute wollen Selfies."
Und Tokio Hotel ist zurck, um mglichst viele Selfies zu geben. Unter anderem am Samstagabend bei "Wetten, dass...?". Auch ein bisschen old school.
PS. Natrlich ist eine Tour geplant. Im Augenblick wird es noch mit "Live-Vorbereitungen" umschrieben. Aber es soll sogar bis nach Australien gehen.
[Stern.de]
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