Mitteldeutsche Zeitung: Comeback von Tokio Hotel
Nach dem Monsun - Alles nur geklaut?
Auf den Tag genau vor fnf Jahre erschien ihr letztes Album, jetzt ist die Magdeburger Teenie-Band wieder da. Und auf einmal klingt sie erwachsen. Ihr erster Titel erinnert dabei sehr an ein Stck einer jungen britischen Jazz-Band.
Halle (Saale).
Ein Bndel Ketten um den Hals, Ringe in Lippen und Nase, das Haar strohblond gefrbt und vor dem Mund ein Mikrofon, so endet die lange Flucht des Bill Kaulitz. Eine Flucht vor dem frhen Ruhm, eine Flucht vor dem Raub der Kindheit, eine Flucht, die von Magdeburg ber Hamburg nach Los Angeles fhrte.
Hier steht der 25-Jhrige nun in einem abgedunkelten Studio, sein Bruder Tom sitzt am Flgel. Beide spielen „Run Run Run“, den ersten Song aus einem neuen Album ihrer Band Tokio Hotel, das am 3. Oktober erscheinen soll.
Fnf Jahre Stille enden
Es wird an diesem Tag fnf Jahre her sein, dass „Humanoid“ erschien, die dritte CD des Quartetts, zu dem neben den Kaulitz-Brdern der aus Halle stammende Bassist Georg Listing und Drummer Gustav Schfer gehren.
„Kings of Suburbia“ wird das neue Werk heien und nach den ersten Hreindrcken knnte die erfolgreichste deutsche Teenieband es geschafft haben, aus dem tiefen Keller einer verlorenen Kindheit zu klettern und sich neu zu erschaffen.
Denn „Run Run Run“ hat nichts mehr von der himmelsstrmenden Juvenilitt, die das Schaffen der Gruppe auf den ersten beiden Werke „Schrei“ und „Zimmer 483“ prgte. Damals schneiderte Produzent Patrick Benzner den vier Teenagern aus dem Osten Lieder zwischen Weltschmerz und Aufbegehren. „Ich muss durch den Monsun, hinter die Welt“, sang Bill Kaulitz, „ans Ende der Zeit, bis kein Regen mehr fllt“.
Der Snger vor allem, ein schmaler 15-Jhriger, der schon mit zwlf bei der Casting-Show „Star Search“ gestartet war, lebte Gleichaltrigen die Mglichkeit vor, ein Star zu sein. Zeigen Bilder aus seiner Zeit bei der Schlerband Devilish ihn noch als Halbwchsigen, der schchtern auf einer viel zu groen Bhne steht und ums berleben singt, hat ihn das Training im Boot-Camp von Patrick Benzner in einen Profi verwandelt. Exaltiert gekleidet wie einst David Bowie, vom Kreischen tausender Mdchen umtost und die kindlichen Zge hinter Make Up versteckt, gibt der gebrtige Leipziger Medien und Massen eine Projektionsflche fr Liebe und Hass gleichermaen.
Der Erfolg ist grer als selbst die Produzenten erhofft haben. Ein Fieber fllt ber das Land, ein Fieber, das eine ganze Generation packt. Bill Kaulitz, der bis dahin nur davon getrumt hat, „Musik zu machen und vielleicht mal davon leben zu knnen“, ist pltzlich kein Teenager mehr, sondern der Mann, der die Plattenindustrie retten muss. 1,5 Millionen Exemplare verkauft die Band aus dem 850-Seelen-rtchen Loitsche (Brdekreis) von ihrem Debtalbum - das ist ein Prozent aller CDs, die in jenem Jahr in Deutschland ber die Ladentheke gehen.
Aber das ist auch einmalig. Auf die drei Top-Hits des Debts folgt nur noch einer aus Album zwei. Der Nachfolger „Humanoid“ liefert dann gar keinen mehr, er hlt sich auch nur noch 17 Wochen in den Charts statt 65 wie noch „Schrei“.
Aus den Lobeshymnen werden nun Verrisse und die Konzerthallen fllen sich auch nicht mehr von allein. Nach drei Jahren im Menschenkfig der ffentlichen Aufmerksamkeit kndigten die Hotelchefs Bill und Tom eine Pause an. In Los Angeles werde man an neuen Stcken arbeiten, heit es.
Eine Ankndigung, die auf die Fans bald wirkt wie ein Witz. Zwar taucht Bill Kaulitz als Snger in einem Stck des Elektro-Quartetts Far East Movement auf und spter spult der verschwundene Mdchenschwarm auch eine Rolle als Juror bei „Deutschland sucht den Superstar“ auftoupiert, aber gutgelaunt ab.
Nur Musik ist nicht zu hren. Bill Kaulitz begrndet das heute mit der Notwendigkeit eines radikalen Neubeginns. „Als wir nach Los Angeles kamen, konnte ich den Namen Tokio Hotel nicht mehr hren.“ Bruder Tom sagt, er sei nicht mal sicher gewesen, ob er all das noch wolle. „Der hohe Preis, den wir fr den Erfolg zahlen mussten, der ganze Wahnsinn, so hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt.“
Es ist eine Geschichte von Verlieren und Wiederfinden, wie sie Knstler hufiger erzhlen. In Los Angeles habe man die Liebe zur Musik wiederentdeckt, beschreibt Tom Kaulitz. Dabei htten „endlose Eskapaden, wilde Nchte und verkaterte Morgen“ geholfen.
Eine Szenerie, von der auch dieses „Run Run Run“ erzhlt, das die Band bei Youtube vorstellte, wo sie seit Wochen kleine Filmchen aus ihrem Alltag zeigen. Fotoshooting, Studio. Bill liegt auf dem Sofa und sagt: „In der Zeitung steht, Bill und Tom sehen nicht mehr aus wie Tokio Hotel“. Alle lachen.
Aber sie klingen wirklich nicht mehr so. „Run Run Run“ zumindest orientiert sich eher an der britischen Band Radiohead. Viel Moll, viel Kopfgesang. Und die Harmonien hneln verblffend dem Stck „Murmuration“ des britischen Jazz-Trios GoGo Penguin.
„True Art Pop“ nennt Bill Kaulitz den neuen, erwachsenen Stil seiner Band. Im Video qualmen die Kippen, Brte werden gezeigt und Bill Kaulitz lispelt liebenswert. Zum Leidwesen vieler Fans wird im Tokio Hotel inzwischen Englisch gesungen. Nicht Bitterfeld, sondern die Welt ist das Feld.
700 000 Mal wurde das Video in den letzten fnf Tagen angeschaut, 30 000 Fans haben es mit gut bewertet und rund 50 mehr oder weniger gelungene Coverversionen der Klaviernummer hochgeladen. Am Freitag werden Tokio Hotel das zweite Stck aus ihrem neuen Album bei Youtube vorstellen. Ob es geklappt hat mit dem Comeback, wissen sie dann in zwei Wochen, wenn die CD in den Handel kommt.
[Mitteldeutsche Zeitung]